KARLSRUHE.Durch die Bücherwand führt nicht etwa der Weg zur Erkenntnis,
sondern der zur Walpurgisnacht. In der Karlsruher Inszenierung der selten
gespielten Oper "Mefistofele" von Arrigo Boito steht der Teufel im
Mittelpunkt und legt eine satanische Ferse auf das Parkett, den Schreibtisch
und die Bücherwand. Die gesammelten, farblich aufeinander abgestimmten
Bände, die Bühnenbildner Christoph Sehl in zwei halbrunden, riesigen
Bücherwänden aufgetürmt hat, halten den alternden, frustrierten Gelehrten
Faust nicht davon ab, der Nachtseite seiner Seele freien Lauf zu lassen.
Schlüssige Bilder
Mephisto oder auf italienisch Mefistofele ist nämlich keine Ausgeburt
der Hölle, sondern Fausts Alter Ego. Regisseur Alexander Schulin hat diese
Deutung konsequent in schlüssige Bilder und eine spannende Personenführung
umgesetzt. Kaum zerknüllt der vergeblich nach ultimativer Weisheit suchende
Faust frustriert die leeren Seiten der Bücher auf seinem Schreibtisch,
während der Badische Staatsopernchor im Prolog himmlische Klänge anstimmt,
schon bricht sein teuflisches Alter Ego aus den Bücherstapeln hervor und
übernimmt die Führung. In genau aufeinander abgestimmten synchronen Gesten
agieren Faust und Mefistofele, Dioskuren im grauen Dreireiher.
Sie treffen sich nach dem Prolog im ersten Akt wieder. Boito, weniger als
Komponist denn als Lieferant der Operntexte für den Kollegen Verdi bekannt,
hat Goethes "Faust" durchaus ernst genommen und kaum eine Schlüsselszene des
ersten Teils ausgelassen. Schulin wiederum zeigt diese Szenen auf seine
Weise, unter tatkräftiger Mitwirkung eines hervorragend vorbereiteten (Carl
Robert Helg) und spielfreudigen Chores. Da wandert der weltfremde Gelehrte
im Osterspaziergang wie ein Geist durch die Volksmassen, durch sich
prügelnde Studenten, flirtende Mädchen, biedere Paare im Stil der dreißiger
Jahre (Kostüme: Ute Frühling). In gekonnter Choreografie umkreisen gleich
vier graue Mephistos den grauen Faust, der, zurück in der Bücherwand, den
berühmten Pakt eingeht. Das bringt ihm zunächst eine effektvolle Himmelfahrt
mit dem Bühnennebelwolken ausstoßenden Schreibtisch ein.
Die reichlich späte, erste Liebeserfahrung mit Margherita lässt Schulin bar
jeder Romantik in Krankenhausbetten als flotten Vierer mit Marta und
Mefistofele stattfinden, im Takt des Quartetts. Auf dem Brocken warten ein
kleiner Berg von Thronsesseln und der auf altmodisch mondän herausgeputzte
Chor auf die Walpurgisnacht. Weibliche und Travestie-Hexen robben auf allen
vieren über die Bühne robben und singen dazu auch noch blendend. Doch Faust
zieht es zurück zu Margherita, die mittlerweile im Kerker aus Bettgestellen
sitzt und nicht vom Teufel gerettet werden will. Fausts Verzweiflung hält
nicht lange, trifft er doch die schöne Helena, die passenderweise mit
derselben Sängerin besetzt ist wie Margherita. Auf Helenas fulminanten
Auftritt in Schwarz, um Trojas Fall zu beklagen, folgt das Lob der
platonischen Liebe. Mefistofele ist mittlerweile sichtlich genervt, er will
endlich Fausts Seele haben.
Vertauschte Rollen
Im Epilog sind die Rollen vertauscht, der Teufel brütet am Schreibtisch,
der erblindete Faust macht sich langsam zum Sterben bereit. Doch, gemein wie
das Gute manchmal sein kann, im letzten Moment greift der weiß gewandete
Chor ein, und Faust muss sein teuflisches Alter Ego tröstend in den Arm
nehmen, während der Chor in mitreißendem Fortissimo wieder bei den
Sphärenklängen des Prologs angekommen ist. Hier schließt sich der Kreis.
Dass "Mefistofele" beim Premierenpublikum so gut ankam, liegt nicht nur an
der durchdachten Inszenierung und der ästhetischen Ausstattung. Das Badische
Staatstheater hat in Konstantin Gorny einen Meister der Darstellung
diabolischer Charaktere. Sein Mephisto ist in jeder Hinsicht präsent, und
dabei oft sympathisch, darin nahe an Goethes Original. Gorny erfüllt diese
Partie mit Leben, er lockt und droht, schmeichelt und giftet. Allein seine
nihilistische Arie im ersten Akt ist ein Glanzstück ausdrucksvollen Gesangs.
Wunderbarer Sopran
Mauro Nicoletti verkörpert überzeugend den alternden, zweifelnden,
weltfremden Faust. Bei Margherita den jugendlichen Liebhaber zu geben, liegt
ihm weniger. Faust ist keine Bravourpartie, und so singt Nicoletti
rollendeckend, ohne seine Stimme über Gebühr anzustrengen. Hinreißend
beseelt, mit glühender Leidenschaft, mühelosen Höhenflügen, runder
Mittellage und tragender Tiefe, singt Barbara Dobrzanska eine ergreifende
Margherita und eine in der Troja-Klage grandiose Helena. Ihr zur Seite, in
einer Doppelrolle als Marta und Pantalis, die zuverlässige Sabrina Kögel.
Hans-Jörg Weinschenk komplettiert die kompetente Solistenriege.
Boito wurde allzu viel Wagner-Anteil in seiner Komposition vorgeworfen,
dabei ist sie in ihrem Ideen- und Farbenreichtum eher bei Berlioz
angesiedelt. Ein wahres Fest für die Badische Staatskapelle, zu der jede
Stimmgruppe beitrug. An Klangfarben und zündenden Aufschwüngen fehlte es der
Wiedergabe unter der Leitung von Uwe Sandner nicht, aber die lyrischen,
intimen Momente in der Musik hätten mehr Feinschliff vertragen.
konstantin gorny, bass, kritik | www.konstantingorny.com