Ich und ich macht zwei oder Eine wunderbare Liebe

Arrigo Boitos selten aufgeführte Oper "Mefistofele" in einer fulminanten Produktion des Badischen Staatstheaters Karlsruhe
Artikel aus derAtto II: Barbara Dobrzanska (Margarete), Mauro Nicoletti (Faust), Konstantin Gorny (Mefisto)
Stuttgarter Zeitung
vom 02.06.2004
: Von Götz Thieme

    Das Dogma der Fünffaltigkeit des Opernrepertoires - Mozart, Verdi, Wagner, Puccini, Strauss - bröckelt. Ihm setzen die Moden zu und die heftigen Infekte. Händel fältelt seit zehn Jahren den Barockrock, ohne dass ein Ende des Moderausches abzusehen wäre. Einer der Infekte heißt Korngolds "Tote Stadt". Er keimte in Karlsruhe wie in Straßburg, Zürich, Berlin und demnächst in Salzburg, Amsterdam. Nun kam am Badischen Staatstheater Karlsruhe eine Neuinszenierung von Arrigo Boitos "Mefistofele" heraus. Noch ein epidemischer Fall einer Seltsamkeit. Vor einem halben Jahr in Brünn, vor zwei Wochen in Frankfurt, dort inszeniert von Dietrich Hilsdorf, in der kommenden Spielzeit in Regensburg und Amsterdam - das Werk des kongenialen Verdi-Librettisten ("Otello" und "Falstaff") fordert wieder Aufmerksamkeit, nachdem es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch aufgeführt wurde.

    Dramaturgisch ist die 1875 herausgekommene Zweitfassung des "Mefistofele", die heute generell gespielt wird, Charles Gounods "Faust" überlegen, hält sich auch enger an Goethes Stück, bezieht der Tragödie zweiten Teil ein. Als Faust-Oper bleibt Busonis ein halbes Jahrhundert später entstandener "Doktor Faust" origineller. Dennoch: Arrigo Boito hat ein lohnendes Werk komponiert, das musikalisch nicht Verdi fortschreibt, sondern deutlich auf den Verismo zusteuert. Pietro Mascagni und Umberto Giordano haben sich ihre ostinat aufschraubenden Vokalekstasen später bei Boito abgeschaut, der selbst immer wieder nach Wagner schielte - im Hexensabbat türmen sich fast als Zitat "Holländer"-Quarten, ohne dass sich sein Blick trübte. So lässt sich George Bernhard Shaws Urteil nachvollziehen: "Wir können eher auf ,La Traviata" verzichten als auf ,Mefistofele"."

    Bei der Premiere in Karlsruhe mochte man noch einige Momente an der Wirkungsmacht von Shaws Worten zweifeln, der Beginn des Prologs mit seinen Fanfaren hinter der Bühne, den Engelschorälchen der Holzbläser schien allzu dünnlippig. Doch jeder Vorhang - dieser ist natürlich von beelzebübischem Rot - hebt sich einmal: Bühne frei für eine fulminante Aufführung. Alexander Schulin, ehemals Assistent von Patrice Chéreau, entwickelt alles aus der Beziehung zwischen Faust und Mefistofele. Der Gelehrte, ein graugesichtiger, bebrillter Jedermann im grauen Anzug, sucht in Büchern, was ihm das Leben vorenthält. An seinem Schreibtisch, unter dem sich die Folianten stapeln, hinter ihm eine konvexe, überhoch ragende Bücherwand, brütet er, als ihn ein übles Darmgrimmen zucken lässt, er taumelt vor, lehnt am Tisch und, ecco, ein ihm Gleicher platzt durch die Bücher: der Teufel in ihm, sein Gegenüber, sein anderes Ich. Mauro Nicoletti und Konstantin Gorny spielen den mit der Doppelseele in der Brust und den Bösemeinenden, als wäre es der Anfang einer wunderbaren Liebe, sie umkreisen sich, senken den Blick, packen sich im Genick. Der Italiener mit schlank-feinem Tenor und einem wunderbar gleißenden hohen H im Epilog und der Russe mit slawisch knarrender Basstiefe - ohrenkundig inspiriert von Schaljapins auf Schallplatte überliefertem Teufel - lassen Rollenvorgänger mit einem Schlag vergessen.

    Schulins Gebrauch der großen Karlsruher Doppeldrehbühne ist so einfach wie raffiniert (Bühne: Christoph Sehl). Die beiden Bücherwände schließen und öffnen sich zu sinnfälligen Räumen: Osterspaziergang, Gretchens Stube, der Hexensabbat mit ausnahmsweise einmal keinem altbackenen Koitalgerangel, sondern einer kessen Chorchoreografie. Genüsslich malt man sich aus, wie die Calixto Bieitos dieser dummen Opernwelt bienenfleißig in den nahe liegenden Honigerotiktopf gefallen wären. Schulin weiß, dass der Zuschauer von all dem nichts braucht. Es genügt, wenn Männer Ohrringe tragen und Frauen die grell verschmierten Münder öffnen; wenn Gretchen in ihrem Gefängnis aus zwei umgestürzten Betten wahnflüchtig die Arie "L"altra notte" anstimmt, sie barfüßig die Streben zu überwinden versucht und immer wieder ins Leere tritt; wenn Gott am Ende einmal wieder den Teufel besiegt hat, dass Faust das andere Ich umfängt, schützend die Arme um Mefistofele legt.

    Schulin versucht das Unmögliche in der plakativsten der Künste: Subtilität. Wie ein Peter Brook des Musiktheaters überwindet er Pose und Mache und weicht doch den Schaueffekten nicht aus. Wollen wir nicht sehen, wie Mefistofele und Faust, auf dem Schreibtisch stehend, einen Nebelstreif hinter sich herziehend, davonfliegen, wie Gott sich als über die Bücherreihen ziehendes Wolkenband offenbart, wie im Helena-Akt nackig-neckig Damen Freiluftringelreigen tanzen? Ja.

    Die integrale Macht des Musiktheaters gründet sich auf der Qualität der musikalischen Realisierung, vor allem der stilistischen Haltung. Die vermag wettzumachen, was an Glanz der Namen, dem Reichtum der Mittel fehlt. In Karlsruhe stand es damit zum Besten, die Staatskapelle und der vom Extrachor unterstützte Staatsopernchor leisteten Erstklassiges, die raschen Artikulationen im zweiten Akt waren vorbildlich. Der Dirigent Uwe Sandner hielt das zum Ausladenden neigende Werk - im Chorfinale stürzen Himmel und Hölle ineinander - in der richtigen Balance von Feuer und Versunkenheit. Und Barbara Dobrzanska, die Karlsruher Callas, in der Doppelrolle als Margherita und Elena bewegte die Herzen. Das riss die Badener von den Stühlen.

Aufführungen am 9., 19. Juni und 4., 7. Juli

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