Das Dogma der Fünffaltigkeit des Opernrepertoires - Mozart, Verdi, Wagner,
Puccini, Strauss - bröckelt. Ihm setzen die Moden zu und die heftigen
Infekte. Händel fältelt seit zehn Jahren den Barockrock, ohne dass ein Ende
des Moderausches abzusehen wäre. Einer der Infekte heißt Korngolds "Tote
Stadt". Er keimte in Karlsruhe wie in Straßburg, Zürich, Berlin und
demnächst in Salzburg, Amsterdam. Nun kam am Badischen Staatstheater
Karlsruhe eine Neuinszenierung von Arrigo Boitos "Mefistofele" heraus. Noch
ein epidemischer Fall einer Seltsamkeit. Vor einem halben Jahr in Brünn, vor
zwei Wochen in Frankfurt, dort inszeniert von Dietrich Hilsdorf, in der
kommenden Spielzeit in Regensburg und Amsterdam - das Werk des kongenialen
Verdi-Librettisten ("Otello" und "Falstaff") fordert wieder Aufmerksamkeit,
nachdem es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch aufgeführt wurde.
Dramaturgisch ist die 1875 herausgekommene Zweitfassung des "Mefistofele",
die heute generell gespielt wird, Charles Gounods "Faust" überlegen, hält
sich auch enger an Goethes Stück, bezieht der Tragödie zweiten Teil ein. Als
Faust-Oper bleibt Busonis ein halbes Jahrhundert später entstandener "Doktor
Faust" origineller. Dennoch: Arrigo Boito hat ein lohnendes Werk komponiert,
das musikalisch nicht Verdi fortschreibt, sondern deutlich auf den Verismo
zusteuert. Pietro Mascagni und Umberto Giordano haben sich ihre ostinat
aufschraubenden Vokalekstasen später bei Boito abgeschaut, der selbst immer
wieder nach Wagner schielte - im Hexensabbat türmen sich fast als Zitat "Holländer"-Quarten,
ohne dass sich sein Blick trübte. So lässt sich George Bernhard Shaws Urteil
nachvollziehen: "Wir können eher auf ,La Traviata" verzichten als auf ,Mefistofele"."
Bei der Premiere in Karlsruhe mochte man noch einige Momente an der
Wirkungsmacht von Shaws Worten zweifeln, der Beginn des Prologs mit seinen
Fanfaren hinter der Bühne, den Engelschorälchen der Holzbläser schien allzu
dünnlippig. Doch jeder Vorhang - dieser ist natürlich von beelzebübischem
Rot - hebt sich einmal: Bühne frei für eine fulminante Aufführung. Alexander
Schulin, ehemals Assistent von Patrice Chéreau, entwickelt alles aus der
Beziehung zwischen Faust und Mefistofele. Der Gelehrte, ein graugesichtiger,
bebrillter Jedermann im grauen Anzug, sucht in Büchern, was ihm das Leben
vorenthält. An seinem Schreibtisch, unter dem sich die Folianten stapeln,
hinter ihm eine konvexe, überhoch ragende Bücherwand, brütet er, als ihn ein
übles Darmgrimmen zucken lässt, er taumelt vor, lehnt am Tisch und, ecco,
ein ihm Gleicher platzt durch die Bücher: der Teufel in ihm, sein Gegenüber,
sein anderes Ich. Mauro Nicoletti und Konstantin Gorny spielen den mit der
Doppelseele in der Brust und den Bösemeinenden, als wäre es der Anfang einer
wunderbaren Liebe, sie umkreisen sich, senken den Blick, packen sich im
Genick. Der Italiener mit schlank-feinem Tenor und einem wunderbar
gleißenden hohen H im Epilog und der Russe mit slawisch knarrender Basstiefe
- ohrenkundig inspiriert von Schaljapins auf Schallplatte überliefertem
Teufel - lassen Rollenvorgänger mit einem Schlag vergessen.
Schulins Gebrauch der großen Karlsruher Doppeldrehbühne ist so einfach wie
raffiniert (Bühne: Christoph Sehl). Die beiden Bücherwände schließen und
öffnen sich zu sinnfälligen Räumen: Osterspaziergang, Gretchens Stube, der
Hexensabbat mit ausnahmsweise einmal keinem altbackenen Koitalgerangel,
sondern einer kessen Chorchoreografie. Genüsslich malt man sich aus, wie die
Calixto Bieitos dieser dummen Opernwelt bienenfleißig in den nahe liegenden
Honigerotiktopf gefallen wären. Schulin weiß, dass der Zuschauer von all dem
nichts braucht. Es genügt, wenn Männer Ohrringe tragen und Frauen die grell
verschmierten Münder öffnen; wenn Gretchen in ihrem Gefängnis aus zwei
umgestürzten Betten wahnflüchtig die Arie "L"altra notte" anstimmt, sie
barfüßig die Streben zu überwinden versucht und immer wieder ins Leere
tritt; wenn Gott am Ende einmal wieder den Teufel besiegt hat, dass Faust
das andere Ich umfängt, schützend die Arme um Mefistofele legt.
Schulin versucht das Unmögliche in der plakativsten der Künste: Subtilität.
Wie ein Peter Brook des Musiktheaters überwindet er Pose und Mache und
weicht doch den Schaueffekten nicht aus. Wollen wir nicht sehen, wie
Mefistofele und Faust, auf dem Schreibtisch stehend, einen Nebelstreif
hinter sich herziehend, davonfliegen, wie Gott sich als über die
Bücherreihen ziehendes Wolkenband offenbart, wie im Helena-Akt nackig-neckig
Damen Freiluftringelreigen tanzen? Ja.
Die integrale Macht des Musiktheaters gründet sich auf der Qualität der
musikalischen Realisierung, vor allem der stilistischen Haltung. Die vermag
wettzumachen, was an Glanz der Namen, dem Reichtum der Mittel fehlt. In
Karlsruhe stand es damit zum Besten, die Staatskapelle und der vom Extrachor
unterstützte Staatsopernchor leisteten Erstklassiges, die raschen
Artikulationen im zweiten Akt waren vorbildlich. Der Dirigent Uwe Sandner
hielt das zum Ausladenden neigende Werk - im Chorfinale stürzen Himmel und
Hölle ineinander - in der richtigen Balance von Feuer und Versunkenheit. Und
Barbara Dobrzanska, die Karlsruher Callas, in der Doppelrolle als Margherita
und Elena bewegte die Herzen. Das riss die Badener von den Stühlen.
Aufführungen am 9., 19. Juni und 4., 7. Juli
konstantin gorny, bass, kritik | www.konstantingorny.com