Mit seiner jüngsten Produktion hat das Badische
Staatstheater für ein faszinierend perspektivenreiches Werk eine Lanze
gebrochen, das auch außerhalb Italiens mehr Aufmerksamkeit verdiente als ihm
zuteil wird. Arrigo Boitos „Mefistofele" - dem Stück, das in Karlsruhe
begeistert umjubelte Premiere hatte - steht mit Sicherheit ein vornehmer Platz
unter den vielfach vorhandenen Faust-Vertonungen zu.
Dies schon auf Grund der intellektuellen Dichte von Boitos
Auseinandersetzung mit seiner vielschichtigen Vorlage. Das geistvolle Libretto,
das der Komponist - auch Literat von hohem Rang und kongenialer Textautor der
späten Verdi-Opern - selbst verfasst hat, ist ein Meisterwerk für sich. Unter
anderem versucht „Mefistofele" Goethes Faust-Thematik in ihrer vollen Breite zu
erfassen, dabei auch den zweiten Teil mit einbeziehend, den etwa Gounods
Version, die wohl bekannteste Faust-Oper, gänzlich außer Acht lässt. Genau
genommen hat man es bei „Mefistofele" mit der ersten Literaturoper der
Gattungsgeschichte zu tun, der mit ihrem schillernden Wechselspiel von
Welttheater, kosmischer Wette, Teufelspakt, Ideendrama, Volksstück und
Kulissenzauber überwältigendes Bühnenpotential innewohnt.
Dem hält die musikalische Substanz des Stückes mit Sicherheit
stand. Dass „Mefistofele" zu seiner Entstehungszeit im mittleren bis späten 19.
Jahrhundert als revolutionäre neue Opernästhetik empfunden wurde, lässt sich
heute nicht ohne weiteres nachvollziehen. Auf jeden Fall führte Boito hier
italienische und Wagner'sche Elemente sowie Strukturen der französischen grand
opera Meyerbeer'scher Provenienz zusammen und vollzog damit eine Art europäische
Opernsynthese.
Verblüffend originell mutet vor allem die musikalische Sphäre
der Titelgestalt an. Schlangenhart gleitende Linien der tiefen Streicher,
bizarre Konstellationen, grelle Farbtupfer, zuweilen deftige Ironie und1 wilde
Aufschreie bestimmen ein höchst unkonventionelles schneidend scharfes, wahrhaft
„teuflisches" Tonidiom, das nebenbei auch die grotesken und skurrilen Züge der
Figur mit Nachdruck unterstreicht. Den Gegenpol bilden Margarethes und Fausts
ariose („italienische") Lyrismen, die schwärmerischpoetische Aura der
Faust-Helena-Szene in der Klassischen Walpurgisnacht - und zwingenden Eindruck
hinterlassen die monumentalen Chortableaux, besonders im Prolog im Himmel.
Die Leerläufe, Trivialitäten und ausgeklügelten Effekte, die
es in der „Mefistofele"-Partitur - zugegeben - ebenfalls gibt, lohnt es sich
daher allemal in Kauf zu nehmen. In Karlsruhe sorgt Dirigent Uwe Sandner - den
großen Apparat mit sicherer Hand koordinierend - für ausgewogene musikalische
Wiedergabe.
Regisseur Alexander Schulins interpretatorische Grundidee
ist, dass Faust und Mefistofele zwei Facetten derselben Person sind, dass
Mefistofele Fausts düsterer Schatten, seine Nachtseite ist, die dieser
akzeptieren muss, um wirklich wissend zu werden. Eine kluge, einleuchtende Idee,
vermittelt durch sinnfällige szenische Signale wie etwa die gleiche
Gegenwartskostümierung und parallele Bewegungsabläufe der beiden Gestalten -
oder Mefistofeles' Geburt gleichsam aus dem sich in Krämpfen windenden Faust:
eine Einstellung allerdings, die der unfreiwilligen Komik nicht entbehrt.
Die Crux der Inszenierung bilden dagegen zahlreiche Leerläufe
mit viel Rampensingen und die Eintönigkeit von Christoph Sehls grauer
Einheitsszenerie. Letztere zwang die gesamte Handlung in Fausts Studierzimmer,
differenzierte sie räumlich und atmosphärisch überhaupt nicht.
Konstantin Gorny war ein virtuoser, die Szene souverän
beherrschender Mefistofele mit tausend Gesichtern und einer prachtvoll sonoren
Bassstimme. Durch kehliges Pressen und harte Übergänge brachte Mauro Nicoletti
seinen angenehm hell gefärbten Tenor von einigem Glanz oft um dessen Wirkung.
Barbara Dobrzanska sang mit bedingungsloser Hingabe und anspre-. chender
Sopransubstanz die Partien der Margarethe und der Helena.
TERMINE
— Weitere Aufführungen: heute und am 9. und 79. Juni.
konstantin gorny, bass, kritik | www.konstantingorny.com